Gerettet

Muß erst ein Grubenunglück passieren, damit man Leben wieder spürt, um die Herrlichkeit des Atmens neu zu definieren. Licht als schmerzhaft empfinden, so das dickes Schwarz die Augen schützen muß, ist dass das neue Sehen? Warten wir nicht alle eingeschlossen zwischen Steinmassen auf einen rettenden Fahrstuhl aus dem All, der uns der Sonne entgegen aus diesem Geröll befreit? Lassen wir uns nicht all zu gern auf dieses Grubenspielchen ein, machtlos, kraftlos, fallenlassen bis man Mauern spürt, nicht sehen können, nicht handeln können, warten, warten, warten…und die Verantwortung für das eigene Leben Anderen überlassend.

Als John K. An jenem Morgen seine Familie verlässt waren ihre letzten Worte: „Ich lass mich scheiden, du elender Versager.“ und seine letzten Worten waren nur: „Ich hasse dich.“ Zwei Stunden später brachte ihn der Polier zusammen mit 10 anderen Kumpel nach unten in die Kupfermine, mit Hammer, Meißel, Bohrer konnte er umgehen. John mochte das Gefühl von Stahl an seinen Händen, liebte die starren Reliefs, die er in den Felsen schlug, Gesichter, die blieben, ohne Münder, die falsche Worte sprachen, ohne Gedanken, ohne Gefühl. Einseitig. Oft strich seine Hand über dieses steinige Ensemble, oft verlor er sich in Betrachtungen, und oft nannte er es Liebe, wenn er seine trockenen Lippen an diesen glitzernden Staub presste.

Nach der Explosion vermischte sich dieses Glitzern mit der Luft, und 11 atmeten um ihr Leben, sogen dieses Gemisch tief in ihre Lungen und besiegelten so ihren Packt mit dem Leben…und dem dazugehörigen Bruder Tod.

„Du kannst nicht beides haben, J.K.“ hustete es neben ihm, „verstehst du nicht, niemand kann das. Entweder du versteckst dich hier zwischen den Steinen in der Dunkelheit und stirbst oder du bleibst oben und wartest im Licht auf den Tod. Oder du hast Mut und triffst Entscheidungen.“

John lächelte, und war gleichzeitig wütend: „Entscheidungen, pah, die hab ich getroffen. Meine Alte lässt sich scheiden, und meine letzten Worte dürften ihr noch in den Ohren bimmeln“

Als 20 Stunden später der Rettungsbohrer ein Miniloch zu ihnen bohrte, sie die Nachricht ihres Überlebens nach oben schickten, 5 Tage später Nachrichten der Familienangehörigen nach unten gelangten und John den parfümierten Zettel seiner Noch-Ehefrau in seinen Händen auseinander faltete mußte er lachen:

„Ich wette, du Penner hast die Grube einstürzen lassen, nur um einen Grund zu haben, nicht mehr nach Hause zu kommen. Vergiss es John, Arschloch, die tun hier alles, um euch da rauszuholen, und dann Gnade Dir Gott.“

Er zeigte seinen Liebesbrief den anderen Kumpel, und versteckte ihn dann in seiner Brusttasche, direkt an seinem Herzen.

Himmel, war er froh, das sich nichts verändern würde, egal wie lange er hier ausharren mußte…Und er wußte auch, das er ewig in dieser Grube arbeiten wird, mit oder ohne diese Frau, das einzige, was zählte war doch, das sich nichts veränderte. Zart strichen seine Finger über die weichen Kanten der von ihm geschaffenen Reliefs, und jedes Gesicht dort unten liebte er wie seine ungeborenen Kinder…Nein, er wartete auf keinen Fahrstuhl aus dem All, sein Fahrstuhl wartete zuhause, mit keifender Stimme, die ihn jeden Morgen daran erinnerte, das er lebendig war. Mehr nicht, und weniger auch nicht.

Untergrund 2007

Ich weiß nicht, ob der Penner von Familie träumt, dort, auf der Bank am Wittenbergplatz, er riecht wie ein Tier, doch niemand würde ihm eine Leine umlegen, oder einen Fressnapf hinstellen. Getränke zu seinen Füßen riechen nach Desinfektion, und Krankenhaus, und wahrscheinlich sichern sie ihm so das Leben. Ich könnte ihm den Tod wünschen, weiß aber nicht, ob ich Gott spielen darf. So gehe ich einfach weiter, mit seinem Geruch in der Nase und der Gestank verfolgt mich, bis zum Imbissstand, wo ein verirrter Tourist mit dem Falkstadtplan kämpft, verfolgt mich bis zur Rolltreppe, wo ein gehetzter Tourist mit der Reisetasche Barrieren baut, und er verfolgt mich bis zu den Gleisen, bis auf den Bahnsteig, wo ein anderer Penner liegt, und vielleicht von Familie träumt, so wie ich, und wie ein Tier riecht, doch niemand würde ihn in einen Käfig sperren, so wie mich. Und wir beide warten auf unterschiedliche Dinge, und doch sollen sie den selben Zweck erfüllen:-fortbringen, wegbringen, weiterbringen, irgendwohin, dort, wo es eigentlich nie besser wird, aber anders.

Und ich lege mich auf eine Bank, und ich frage mich, ob ich von Familie träumen werde, wenn ich die Augen schließe.

Everybody knows

Sehen

Sehen

Jedermann weiß es…everybody knows…und nur, damit du es nicht vergisst: Blut kann man abwaschen, Blut bleibt nicht ewig an deiner Wange kleben, und Du wirst auch wieder dur ch beide Nasenlöcher Luft holen können…nur jetzt, im Augenblick, macht sie diese komischen Pfeifgeräusche, es klingt, als ob Du jedes mal scharf die Luft einziehst, weil jemand im Raum etwas gesagt hat, was nicht gerade sensibel war…doch hier ist niemand in diesem Raum, nicht mehr, und du könntest dich entspannen…Wieder dieses Pfeifen, und wieder ein leerer Raum…Jedermann weiß es…everybody knows…doch nur damit du es nicht vergisst…Sie ist einkaufen, sie ist länger als nur drei Atemzüge oder drei Fragen oder dreimal Ausziehen weg…sie ist lange weg…Und wieder dieses Pfeifen, wirklich beide Nasenlöcher, die sie dieses mal getroffen hat…doch, hey, sie werden irgendwann wieder frei sein…frei…durchlässig…einatmen…ausatmen…Vielleicht solltest du dir langsam etwas anziehen, nur, damit du dieses mal vorbereitet bist, und ja, langsam, du hast Zeit…jede Bewegung erinnert dich….ja, aber eine Hose solltest du dir anziehen…Jedermann weiß es…everybody knows…doch, nur damit du es nie, wirklich niemals vergisst…sie hat dir an die Hoden gegriffen, weil du ihren Orgasmus versaut hast…mehr nicht…und sie werden wieder abschwellen, und du wirst nicht mehr laufen wie King John auf dem Weg zu Bar…nein…nur zieh dir etwas an…hier, in diesem leeren Raum, solange er noch leer ist…pass auf mit dem T-Shirt, das es nicht wie damals an deinem Nasenrücken hängenbleibt…oben schmerzt es am Schlimmsten, aber auch das vergeht wieder…

Und jetzt, am Fenster, fragst du dich, warum du nicht einfach zur Tür hinausgehst…sie ist offen, nicht abgeschlossen…und selbst wenn…du hast doch einen Schlüssel…Und hier am Fenster, mit all dieser Sehnsucht, mit Blick auf eine lange Straße, und Autos, und Menschen, und Hunde, die du nicht leiden kannst, weil sie schlafende Kinder aufwecken, und du das Schreien nicht mehr aushältst….fragst du dich, warum du nicht einfach auch dort unten läufst, zwischen all den Menschen, und Hunden und Autos…Jedermann weiß es…everybody Knows…doch nur damit du es nicht vergisst…Du weißt es auch…lange schon, also kannst du einfach zur Haustür schleichen, sie öffnen und gehen…

Das ist gut…es ist nicht mehr weit, noch einmal ein Blick zum Fenster, Wolken, Baumkronen, Himmel voll Sonne, dazwischen Regen, Schnee, Dunkelheit, Hagel, Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, Blitze, Vögel, Bunte Blätter…noch ein Blick zurück durch die Jahreszeiten, zurück durch blutige Augen betrachtet das Wetter, die Stunden, Monate, Jahre…zurück…ein Blick aus dem Fenster, dort unten…ganz tief…eine freie Stelle zwischen den Autos und Menschen und Hunden…und vielleicht läuft sie dort gerade entlang, bleibt vielleicht kurz stehen, an diesem winzigen Ort, der vielleicht auch Freisein bedeutet…vielleicht…und einfacher zu erreichen ist, als ein paar Schritte zur Tür hinauszugehen…Vielleicht…Niemand weiß es…heaven knows…und nur, damit du es niemals vergisst…du weißt es auch nicht…Oder doch?

Auf zerkratzten Fußsohlen zu laufen…jetzt…die Hose drückt an deinem Hoden…und nur, weil du ihren Höhepunkt versaut hast…weil Schlaf nicht vorkommt, nicht zu den Zeiten, zu denen du schlafen willst…nein…und jeder Schritt schmerzt, doch weit ist nun das Fenster, und das ist gut…weit weit weg ist das Fenster, mit dem rosafarbenen Rahmen, diesen leichten Spuren von abgewischtem Rot auf Fensterlack…weit weg, und du schleichst zur Tür, ganz nah….noch ein kurzer Blick durch den Raum, der eigentlich leer ist, und nur dein Pfeifen tönt und zischt in diese Leere…das ganze Stöhnen wird übertönt, das ganze verdammte Kreischen und Klatschen wird endlich, vielleicht endlich übertönt…weißt du es…niemand weiß es…heaven knows….Und du bist an der Tür angekommen, deine Hand greift nach Metal, dein kleiner Finger zuckt, der so hart geritten wurde…und alle anderen Finger schmerzen, weil sie so hart geritten wurden, als nichts Hartes mehr an dir zu finden war, ausser deinem Blick, nach innen gerichtet….dein Knie schon kaputtgeritten, dein Schenkel unsagbar geschunden….und weißt du es…niemand weiß es…heaven knows…und jetzt drückt die Hand mit voller Kraft, und dein Kopf fällt gegen den Rahmen…deine Stirn legt sich an den kühlen Lack, und du riechst dich, riechst alles…riechst ihre Hand an diesem Rahmen, riechst deine Hand auf ihrer Hand an diesem Rahmen, und endlich weißt du es, hier in diesem Raum, mit allen Gerüchen in deiner gebrochenen Nase, hier, mit diesem Pfeifen und Zischen und all dem Blut, das an deinem Kinn eine dünne Spur hinterlässt,…, endlich weißt du es, während der Blutstropfen über die Hämatome rinnt, die deinen Hals färben, über tiefe Kratzer streichelt, eine letzte Berührung deiner Finger, die den Tropfen genau dort verwischen, dort, an deinem Hals, und mit dieser Berührung kannst du endlich loslassen, kannst deine Augen öffnen, kannst dich umdrehen und auf ein geöffnetes Fenster schauen, kannst die Sonne sehen und hinter der Sonne einen Platz, nur für dich allein… und die Klinke wandert wieder nach oben…Everybody Knows.

Mondlandung

Auf dem Mond zu landen ist bestimmt genauso unbefriedigend wie die meisten Wunscherfüllungen. Ich stelle mir etwas vor, träume, male es mir aus und farbig, wünsche es mir, bekomme es, und…? Auf dem Mond ist es dunkel, kalt, man sieht nur die Scheibe des Helmes, die beschlägt, laufen klappt nicht, und die Reise dahin war lang…lesen klappt nicht, essen ist nicht möglich, mir ist schlecht…

Nein, keine Mond...

Ich stehe auf dem Dach eines 23 Geschossers, sehe den Grenzübergang Checkpoint Charly, Doppelstockbusse, Häuser, die bunt sind, blinkende Werbetafeln, ergänze das Gesehene mit der Reklame im Fernsehen und weiß, das ich dort, hinter der dicken Mauer auch mal laufen werde. Ich weiß es und kann es kaum erwarten. Mit 11 hat man noch die Kraft, Wünsche und Wissen miteinander zu verbinden, so das sie Wirklichkeit werden. Nach 5 Jahren war es soweit…nach 5 Halben in den Alt Köllner Schankstuben stolpern wir an den Grenzkontrollen vorbei, schwanken in die U Bahn, ich schlafe fast ein, Linie 1 saust durch Kreuzberg, rotzt uns Moritzplatz raus, in die nächste Kneipe, anstatt Berliner vom Fass Schultheiss vom Fass, auf Kosten des Hauses nach Vorlage des DDR Ausweises…super…ich bin richtig voll, und zurück erlebe ich nur noch im Vollrausch. Aufwachen im Osten, die Mutter sauer, weil das unbekannte Fernsehbekannte ohne Erlaubnis betreten wurde… kann ich nicht verstehen, also ihre Wut, weil ich sowieso nichts mehr weiß, und betrunkener war als der Junkie, vor dem sie große Angst hat. Hab keine Junkies gesehen, sage ich, und weiß auch gar nicht, wie die aussehen.

Gibt doch nur Drogenabhängige da drüben, schreit meine Mutter, du hättest tot sein können.

Ihr eigener Kater verstärkt noch die Wut, ich weiß, das in ein paar Stunden das ganze hier vergessen ist, und am Abend will sie bestimmt am liebsten mitkommen, wenn der Schnapsrausch noch frisch ist.

Doch das ist alles später. Jetzt stehe ich auf dem Hochhausdach, neben mir steht Hajo, wir langweilen uns, der Ausblick ist was für Erwachsene. Außer dem Kribbeln, wenn man über die Brüstung 100 Meter in die Tiefe blickt. Eigentlich warten wir darauf, das mal wieder einer springt. Wie letzte Woche, als die letzte Stunde ausfiel.

Der Mann klatschte hinter dem Auto unseres Werkenlehrers auf den Asphalt, einige aus meiner Klasse haben ihn fallen gesehen und waren mit dem Erlebnis überfordert. Als sich der ganze Vorfall rumgesprochen hatte, konnte kein Unterricht mehr stattfinden. Dani weinte, Claudia auch, der Rest starrte aus dem Fenster, als ob gleich noch ein zweiter angeflogen kommt.

Die Polizei hatte Sand auf die Stelle gestreut, so das der Blutfleck verdeckt wurde. Ich stellte mir vor, das dort nicht nur Blut sein würde. Ingo ging am Nachmittag dicht heran an den roten Sand; mit Peer und Daniel, Stöcker in den Händen, mit denen sie im Sand rumkratzten. Ich traute mich nicht so nah heran.

Damals wußte ich noch nicht, das Freitod und meine Familie irgendwie zusammengehörten. Ich hatte entsetzliche Angst, mich dem Sand zu nähern, und wollte gleichzeitig alles sehen. Sogar riechen. Noch heute wechseln sich Faszination und Ekel bei dem Gedanken an Mord und Leichen ab. Und so muß auch hier eine Wunscherfüllung unbefriedigt bleiben. An einen Toten zu denken und einen Toten zu sehen, dazwischen liegen Angst und unzensierte Vorstellungskraft.

Zwei Wochen später, mitten in der Nacht, sprang eine Frau aus dem Nebenhaus genau vor den Eingang der Poliklinik. Meine Mutter weckte mich, oder ich wurde von den Sirenen wach. Ich erinnere mich an Blaulicht, an den Schnapsatem meiner Mutter und an ein schabendes Geräusch. Auf den Balkon durfte ich erst am Morgen, und auch erst, nach dem meine Mutter kontrolliert hatte, das alles weggeräumt wurde.

Ich will den Blutfleck nicht mehr sehen – sage ich. Doch meine Mutter beschreibt ihn in einer Bildhaftigkeit, das ich ihn fast riechen kann. Und obwohl ich ihn wirklich nicht sehen will, schiebt mich Faszination und Ekel auf den Balkon, und mein Gesicht über die Brüstung.

Ein Blutfleck, mit der Form eines liegenden Körpers. Das schabende Geräusch in der Nacht war mit dem Versuch verbunden, diese Zeichnung wegzuwischen. Unmöglich. Hatte sich sofort in den Granitstein gefressen, als etwas anderer Wegweiser für die Besucher der Poliklinik.


Dinge ohne Namen

Dinge brauchen einen Namen. Ohne Bezeichnung sind sie schutzlos. Nutzlos.Menschen wollen bezeichnet werden, um sich zu verstehen. Um bewusst zu werden. Einmaligkeit. Mörder wollen die Namen ihrer Opfer nicht wissen. Sie wollen nur Fleisch, nicht die Beziehung.

Namen schützen. Sollten sie.

Der kleine Junge hatte einen Namen. Sobald er ihn aussprechen konnte,hauchte er ihn gegen die große Wohnzimmerscheibe, um für immer sichtbar zu sein. Hauchte und hauchte, bis ihm die Luft knapp wurde. Er schrieb ihn auf Zettel, die weggeworfen wurden, kratzte ihn in Wände, die neu gestrichen wurden, hauchte, schrieb und kratzt in einer Besessenheit, als ob mit dem Verblassen, Wegwerfen, Neustreichen auch er gleich wieder verschwinden würde. Als ihm gesagt wurde, er solle aufhören, überall seinen Namen hinzuschmieren, kam die Angst.

Ich muß ihn aufschreiben – wimmerte er.

Warum denn?

Na…na…na…weil, sonst, sonst bin ich weg?

Das Gelächter klimperte in seinen Ohren und explodierte in seinem Herzen.

Schätzchen, du bist niemals weg. Und jetzt laß das mit dem Namen. Jeder weiß wie du heißt…ehrlich…schreib andere Sachen…

Und er versuchte es…schrieb nur noch ganz selten in versteckte Ecken die acht Buchstaben…dann nur noch den Anfangsbuchstaben…und war glücklich…ja…es funktioniert, dachte er, ich bin nicht weg…ha ha…

Dann starb sein Vater. Und er wußte warum. Er hatte recht gehabt. Hatte nicht umsonst seinen Namen schreiben, sagen wollen. Sie hatten gelogen. Sie hatten alle gelogen. Man verschwindet, wenn man seinen Namen vergisst. Man verschwindet, wenn man sich nicht mehr nennt. Und er wußte, er hatte das Wort Papa an diesem Tag einmal zu wenig gesagt.

Da war er 5, der November dunkel, der Kindergarten eine Märchenstunde, Weihnachten überschwenglich, viel Schnee und viel zu lautes Lachen.

Alexander Schien

Tote kommen nicht zurück. Keine Möglichkeit mehr, einen Fehler zu korrigieren. Obwohl das auch nicht stimmt. Für mich müßte es heißen: Lebende können nicht zu den Toten reisen, um einen Fehler zu korrigieren.

Und wenn doch?

Ich würde Dir nur einen Satz mitbringen, ein Versprechen.

Die Polizei fand in deiner Wohnung alles, was man zurückläßt, wenn man nie mehr umkehren möchte.

Tag für Tag lebe ich für Minuten in deinem Körper, um mit deinen Augen zu sehen, mit deinem Herzen zu fühlen, und Nacht für Nacht winde ich mich vor Schmerzen, weil ich deine Einsamkeit fühlen muß, weil der Freund, der ich sein wollte, nicht tief genug geschaut hat.

Tote werden nicht zurückkommen, erst recht nicht, wenn der Ort, den sie als Lebende verlassen haben, so sehr nach Einsamkeit gerochen hat, das nicht mal Wodka die Freunde zurückholen konnte.

Ein Bahnhof, ein Supermarkt, und ein nächtlicher Spaziergänger, der dich fand, dort, zwischen Bäumen und Bänken, ein Hund, der dich vielleicht ein letztes mal berühren durfte, die letzte Berührung, die ganz sanft war, bevor du abgeholt wurdest.

Ich sehe ein Gesicht, gerahmt von roten Locken, die so lang waren, weil deine Musik, die du gehört hast, deine Haare wachsen ließ, Musik, die so hart war, mit Stimmen, die aus der Hölle zu kommen schienen, und doch oft von Liebe gesungen haben, auch von Schmerzen, und sowieso von Einsamkeit.

Tote schauen nicht zurück. Auch nicht nach vorn. Tote sind. Tote bleiben. Lebende suchen rückwärts, vor allem, wenn sie einen Satz loswerden müssen, diesen verdammten Satz, der ein ganzes Leben lang ist, mitlerweile zu lang für zwei Leben. Manchmal denke ich, ich müßte dein Leben mitleben, einfach, weil es mir dann besser gehen würde. Doch ich bin viel zu schwach.

Manchmal höre ich meinen Namen, mit deiner Stimme, dieser Name, den nur du benutzt hast, und mit einer Stimme, die Tom Waits Dir stehlen würde…Manchmal höre ich meinen Namen, und weiß aber, das Steine nicht sprechen können, vor allem nicht der Stein, auf dem dein Name glitzert, wenn Sonne sich darin spiegelt, und viel zu oft schließe ich dann die Augen, und das ist nicht gut, weil ich dann Bilder sehe, die mit dir nichts mehr zu tun haben…

Tote können sich nicht wehren, und Lebende können nichts dagegen tun, vor allem nicht, wenn die Bestatter Haare abschneiden, und Gerichtsmediziner Gesichter aufschneiden, und Pfarrer ein Leben erzählen, in dem du nicht vorkommst, und deine Mutter nichts mehr tragen kann, selbst mein Weinen war zu schwer, und dein Bruder hatte auch keine Tränen mehr, weil ich sie alle geklaut hatte, und das Schlimmste, das wirklich Schlimmste…meinen Namen, den du für mich hattest, aus dem Mund deiner Mutter zu hören, später, nach viel zu viel Whisky, der irgendwann nur noch aus meinen Augen rauslief…

Später…Jetzt…Ich werde meinen Satz nicht los, auch nicht nach tausend Wörtern…und sitze ich in einem Cafe, und eine Tür, die ich auf und zu gehend betrachte…und ich weiß, sie wird von dir nicht mehr durchschritten…nie mehr…

Darf ich dich trotz allem noch um etwas bitten…das du ein letztes mal nur meinen Namen sagst…nur noch einmal…mit deiner Stimme…nicht der Stein soll ihn sagen, nicht deine Mutter, nicht mal mehr meine Erinnerung…nur Du…sag: Engelchen…

Bernstein auf deutsch

Abreisetag. Nach sieben Tagen in der goldenen Stadt. Viel gelaufen, viel gesehen, mit Kafkas Worten:

„Im Kino gewesen! Geweint!“

Viel Switschkowa, viel Palatschinken. Die ersten Tage warm, und sonnig, dann Regen, Kälte, noch mehr gelaufen, und viel zu viel gesehen, und gehört.

Die Stadt ist Golden, ja, auf den U-Bahnhöfen, wenn einem schwindlig war von der langen, steilen Rolltreppenfahrt, ja dann war sie golden, weil das Licht grell wurde, und man auf dem Bahnsteig schwankte, sie war golden in den Geschenkeläden, in all den Matroschkas, und in all dem Kristall aus Böhmen, ja , da war sie golden, und golden im Bernstein, der in Auslagen wartet.

„Hier muß ich auch noch rein, Planet, dann haben wirs geschafft…“

„Kein Problem…ham ja noch Zeit…“

Wir starren auf die Ringe in der Auslage im Fenster, starren auf das Gesicht der Verkäuferin, die uns durch den ganzen Bernsteinfunkel angrinst, dann zur Tür eilt, und winkt.

„Come in, please, come in“

„Okay, Felix, ich geh schnell rein, kannst ja draußen warten…“

„Bist du bescheuert…ich warte doch nicht im Regen…“

„Äh…dachte nur, das dich das hier langweilt…“

„Scheißegal…besser, als im Regen rumzustehen…“

Wir gehen also rein, tropfen die Fliesen voll, stehen hilflos zwischen Glimmer und getürktem Gold. Plötzlich sind es zwei Verkäuferinnen, eine gelangweilt hinter dem Thresen, die andere gezwungen freundlich, doch nicht bemüht, zu verbergen, das wir uns gleich verpissen können, wenn wir nicht über 20000 Kronen in dem Laden lassen wollen.

Es ist still…viel zu still, man hört die Schirme tropfen, das quitschen der Sohlen mit jedem Schritt.

Vorsichtig nähere ich mich einer Vitrine, sofort steht das Fräulein neben mir, ich deute auf Ringe, sie holt die Palletten raus.

Während ich mich von 10000 Kronen auf 2000 Kronen runterarbeite, wird die Dame immer ungeduldiger, und von 2000 auf 1000 beginnt sie , auf tschechisch mit ihrer Kollegin zu quatschen. Beide lachen. Ich schaue zu Planet, der wiederum an die Decke starrt, dann wieder zu mir, wir zucken mit den Schultern.

Ich deute auf einen Bernsteinring, die junge Dame macht wieder tschechische Kommentare, ihre Kollegin lacht, beide lachen, sie reicht mir den Ring, ich probiere, dann noch einen, und noch einen, mehr Kommentare, lachen.

Ich drehe mich zu Felix, sage: „Krasse Scheiße hier drin, aber wir können ja gleich gehen.“

Und ehe er antwortet, sagt die tschechische Dame.

„Ahhh, sssprechen deutsch…“

Stille.

Dann kichert sie, dann kichert ihre Freundin, dann lache ich auch, aus Verzweiflung, und weiß, das es draußen, im Regen, im Sturm, im Unwetter, im Hurrikan allemal besser ist, als hier, zwischen all dem falschen Glitzer.

Ich nehme den Ring, den letzten, den schmalen, und sie macht ihn auch noch billiger, was alles sagt, ohne Worte, ohne deutsch, ohne Tschechisch, und auf der Straße, im Regen, weiß ich das wir in ein paar Stunden abreisen, und irgendwie freue ich mich darauf.

Zwischen den Gleisen (2001)

Ein Narr, der sich in ungünstigen Augenblicken Arbeiter nannte; nun das Gleis im Nacken, den Rücken auf Bohlen, und Schotter dazwischen.

Da liegt er.

Die Schminke ist Brückenstaub und an den Händen noch die Krümel von dem Brot für eins zwanzig. Während er liegt, wartet, mit unruhigem Fuß in festem Lederschuh, kommt ihm das Leben in seine Gedanken. Es zieht nicht vorbei. Und wenn, dann wäre er zu müde, den Film zu verfolgen.So berühren ihn Sequenzen, in Vielen ist Farbe, vielleicht das Nachtlicht oder auch die Blume im Haar seiner Mutter.

Vielleicht war es auch sein Leben, das mit der Farbe.

Der Mond zwinkert im Deckel seiner Thermoskanne, und im Kaffee, den er sich noch schnell eingegossen hat.Schluck für Schluck trinkt er liegend, trinkt den Mond aus dem Becher, und sieht ihn nicht einmal.Einzelne Tropfen rinnen am Kinn entlang, runter an seinem Hals.

Auch das ist Warten, und wieder Sequenzen, und alles ist Farbe.

Schön war es in Wien, auch ohne die Kinder.Auch ohne Marie die ihn zu dieser Reise ermutigt hatte.Als er zurückkam, musste er drei Menschen begraben, das Auto trotzdem weiter abbezahlen. Die Trauer stand nicht im Vertrag. Es tut ihnen sehr Leid. Auf der Beileidskarte war das Fordzeichen, und mit der Karte kam die Aufforderung für die weiteren drei Raten.

Ein Narr, denkt er, der in ungünstigen Augenblicken trotzdem lächelte, und er dreht sich auf die Seite. Das Gleis am Ohr, und Schotter unter der Schulter. Die Beine jetzt gewinkelt, Staub an dem Anzug. Die Schminke gestreift von Tränen, die er vorher nie geweint hat. Auf den Bohlen ist Farbe, Nummern in rot, die er nicht sieht. Gäbe es einen letzten Gedanken, wäre dieser zu lang für nur einen Gedanken.

Und jetzt kommt die Wut. Der Narr, der er nie war, und doch immer dachte, er sei es gewesen, richtet sich auf, und erhebt sich sogar.

Der Kaffee, noch heiß in der Kanne, bleibt liegen, dort zwischen den Gleisen, und der Mond bleibt auch dort, als Funkeln auf dem summenden Metall, während der Arbeiter müßig seine Sachen beklopft und den Damm besteigt, mit nichts in den Händen. Die Krümel sind weg, gekrümmt die Finger, fast schon zu Fäusten geworden.

Am Abend…

…geschehen die wunderlichsten Dinge…

Da war zum Einen der Feuerschlucker auf der Kreuzung, der so plötzlich einen Hustenanfall bekam, und sein Gesicht zur Unkenntlichkeit verbrannte,das die Autofahrer in Begeisterung ausbrachen, und während der junge Feuertänzer jämmerlich erstickte, die Fahrbahn vor Silbermünzen glänzte.

Zum ersten mal hätte er verdient, nun spiegelte sich in seinen aufgerissenen Augen zum letzten mal ein Glanz von dem vielen Geld, das ihn begrub.

Da war zum Zweiten der Rosenverkäufer, der so plötzlich alle seine Langstieligen, der Zahl 80, an einen jungen Mann los wurde, zum Sonderpreis von 65 Pfennigen, und dieser junge Herr daraufhin und gleich vor Ort mit diesem bunten Strauß seine Frau verkloppte,das diese von Dornen zerstochen Blut auf den Bahnhofskacheln hinteließ, davon die Reisenden noch in 20 Jahren berichten werden.

Die Polizei kam zuspät, entstellt wird die Frau überleben, doch Rosen wollte ich ihr nicht mehr schenken, und der Mann ruht sich aus, in Moabit und wird sein Leben aufs Papier bringen. Vielleicht mit einem Film zum Buch…wer weiß wer weiß…

Am Abend

geschehen die traurigsten Dinge…

Da wär die Barfrau, die seit 2 Stunden einem Gast nachschenkte, der wiederum vom Krieg erzählte, so das sie sich gleich mitbeschenkte und trank, aus Angst, ihr könne das ganze Blut aus den Augen laufen, und die Granaten das Herz zersprengen, und alles roch nach Schützengraben und nach Heimkehr, der Schnaps schmeckte selbstgebrannt und das Bier spülte nicht mal mehr die Erinnerungen runter, zu frisch erzählte der Gast immer weiter…bis seine Stimme versagte, und sein Weinen an der Brust der Barfrau verstummte und die Tränen nicht nur ihre Bluse aufweichten, so das am Morgen der Krieg in ihrem Schlafzimmer neue Stimmen bekam und das Trinken weitergehen mußte…

Und da wären auch immer wieder dieselben Menschen, die an immer den gleichen Orten ihre Geschichten erzählen, in andere Ohren und aus anderen Mündern, und die Welt ist ein großes Papier, und dieSeelen Stifte, und das Leben aufgeschrieben und der Abend…

Ja, am Abend geschehen…

Sterben um zu fühlen

Wenn ich an dich denke, und Kriege sehe, wo früher ein Mond aufgegangen war, dann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich dir den Rücken zuwenden werde.

Wenn meine Hände dich berühren, und ich mir wünsche, Finger würden zu Rasierklingen werden, um Schnitte zu hinterlassen, dort, wo sie früher Gänsehaut provozierten, dann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich mich abwenden werde.

Wenn du nicht mehr in meinen Träumen auftauchen wirst, wenn ich im Schlaf dein Gesicht nicht mehr erkenne, wenn ich einen Grabstein besuche, auf dem ich deinen Namen lese, obwohl dort andere Gebeine ruhen, wenn…ich sterben müßte, um mich wieder zu fühlen, dann ist der zeitpunkt gekommen, an dem ich keine Spuren mehr in deinen Räumen hinterlassen werde.

Und wenn ich gehe, weine nicht um den Verlust einer schönen Erinnerung, die vielleicht nie stattgefunden hat, sondern veruche zu lachen, über diesen neuen Augenblick, ab dem du nicht mehr aufpassen mußt.

Und wenn ich gehe, nimm einen Lappen, und verwische alle meine Spuren, damit du nicht aus versehen das Verlangen verspürst, ihnen zu folgen. Laufe niemandem nach, der vielleicht nie existiert hat, und verstehe, du läufst nur durch deine Gedanken, die mit mir vielelicht nie etwas gemeinsam hatten…ausser dir selbst.

Der Autor will ...

1Alexander

Bücher verkaufen, den Alltag aufschreiben, Kaffee trinken, oft zuviel, manchmal Geschriebenes vorlesen, mal laut, mal leise, Musik auf den Tag abstimmen, oft dabei scheitern, weil die Stimmung zu oft wechselt...schlafen, wenn es geht, oder am offenen Fenster rauchen und ...mit einer wundervollen Frau an einem unendlichen Buch schreiben ...

Über den Autor ...

Geboren in Berlin, nach 10 Klassen einen Metallberuf erlernt und wieder aufgegeben, dann Wende, dann Abitur, vorher Zivildienst, dann Studium, abgebrochen, und am Ende Buchhändler...noch vor der Rente...in dieser Zeit immer öfter geschrieben, seit 2003 bei den Lautmalern, vorher NUREMBOURGH gegründet, musikalische Lesung eigener Texte, mit CD im Selbstverlag, 2008 "Blut" in Vision und Wahn Anthologie veröffentlicht, seit 2008 bei den Spree AG lern, und jetzt mal sehen ...