Dinge ohne Namen
Dinge brauchen einen Namen. Ohne Bezeichnung sind sie schutzlos. Nutzlos.Menschen wollen bezeichnet werden, um sich zu verstehen. Um bewusst zu werden. Einmaligkeit. Mörder wollen die Namen ihrer Opfer nicht wissen. Sie wollen nur Fleisch, nicht die Beziehung.
Namen schützen. Sollten sie.
Der kleine Junge hatte einen Namen. Sobald er ihn aussprechen konnte,hauchte er ihn gegen die große Wohnzimmerscheibe, um für immer sichtbar zu sein. Hauchte und hauchte, bis ihm die Luft knapp wurde. Er schrieb ihn auf Zettel, die weggeworfen wurden, kratzte ihn in Wände, die neu gestrichen wurden, hauchte, schrieb und kratzt in einer Besessenheit, als ob mit dem Verblassen, Wegwerfen, Neustreichen auch er gleich wieder verschwinden würde. Als ihm gesagt wurde, er solle aufhören, überall seinen Namen hinzuschmieren, kam die Angst.
Ich muß ihn aufschreiben – wimmerte er.
Warum denn?
Na…na…na…weil, sonst, sonst bin ich weg?
Das Gelächter klimperte in seinen Ohren und explodierte in seinem Herzen.
Schätzchen, du bist niemals weg. Und jetzt laß das mit dem Namen. Jeder weiß wie du heißt…ehrlich…schreib andere Sachen…
Und er versuchte es…schrieb nur noch ganz selten in versteckte Ecken die acht Buchstaben…dann nur noch den Anfangsbuchstaben…und war glücklich…ja…es funktioniert, dachte er, ich bin nicht weg…ha ha…
Dann starb sein Vater. Und er wußte warum. Er hatte recht gehabt. Hatte nicht umsonst seinen Namen schreiben, sagen wollen. Sie hatten gelogen. Sie hatten alle gelogen. Man verschwindet, wenn man seinen Namen vergisst. Man verschwindet, wenn man sich nicht mehr nennt. Und er wußte, er hatte das Wort Papa an diesem Tag einmal zu wenig gesagt.
Da war er 5, der November dunkel, der Kindergarten eine Märchenstunde, Weihnachten überschwenglich, viel Schnee und viel zu lautes Lachen.
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