November Teil 3

1979

Der Soldat ist weg. Einfach weg. Mit Bindfaden und allem. Als sie heute nach Hause kamen, hat der kleine Junge sich gleich unter den Schreibtisch gesetzt, und da war- Nichts.

Die Stuhllehne ohne Bindfaden. Ohne Soldat.

Seine Mutter kann er nicht fragen, obwohl nur sie ihn abgeschnitten haben kann. Aber heute fragen. Unmöglich.

Sie kam schon zu spät in den Kindergarten. Seine Erzieherin hat versucht ihm zu erklären, das das nicht so schlimm sei.

Die weiß gar nichts. Vor allem nicht, was wirklich schlimm ist.

November Teil 2

2001

„Wer hat ihn gefunden?“

„Seine Frau.“

Karl zuckt mit dem Kopf in Richtung Flur. Kleine Tropfen lösen sich aus seinem Haar.

„Sie sitzt im Wohnzimmer. Greta ist bei ihr.“

„Ist sie ansprechbar?“

„Wohl kaum. Hat versucht, ihn selber abzuschneiden.“

„Mein Gott. Der wiegt doch bestimmt 90 Kilo.“

„Mindestens.“

Louis schaut hoch. An die Zimmerdecke. An den Haken. Dann erst senkt er den Blick auf den Körper, der vor ihm auf dem Teppich liegt. Mit dem typischen Gesicht eines Erhängten. Geschwollen. Verzerrt. In Überfarben. Überrot. Überviolett.

„Wie lange…?“ fragt Louis, ohne den Blick abzuwenden.

„Was meinst du?“ Karl stellt sich neben Louis, und beide sind nun Betrachter.

„Na, wie lange hat er gehangen?“

„Schwer zu sagen. Müssen die Kollegen aus der Pathologie ergründen. Ist ja auch nicht so relevant. Ich meine, bei dem klaren Fall.“

Louis geht in die Hocke. Nähert sich dem Leichnam.

„Sieht so aus. Klarer Fall. Gabs einen Abschiedsbrief.“

Karl kramt in seiner Tasche, und reicht Louis einen Zettel.

`Ès ist besser so für euch. Ich liebe euch.` steht dort, in sauberer Handschrift, fast gedruckt, untypisch für einen Mann – denkt Louis. Vielleicht wolte er alles richtig machen. Wenigstens ohne Mißverständnisse gehen. Andererseits ziemlich kurzer Abschied. Ohne Unterschrift, ohne Namen.

„Naja, dann warten wir noch auf die Kollegen von der Patho und verschwinden wieder…“

„Willst du nicht wenigstens mal rüber gehen, versuchen, mit der Frau zu reden?“

Louis starrt immer noch auf den Körper. Seine Beine schmerzen, weil kein Blut nachfließt.

„Hm. Wollte ich eigentlich vermeiden.“

Er betrachtet das Gesicht, die Farbtöne, den Hals, das grüne Seil, verkrampfte Hände, den Urinfleck auf der verwaschenen Jeans, die Füße, keine Socken, keine Schuhe.

Abhaken, denkt Louis beim Betrachten, alles immer nur Abhaken. Polizistendenken. Betrachten. Einordnen. Abgleichen. Sein Blick wandert, von den Füßen über den Bauch, zu den Händen. Bleibt dort. Verweilen auf einem kleinen Gegenstand.

„Was hält er denn dort?“

Karl kommt näher, geht auch in die Hocke. Und sieht es erst gar nicht, bis Louis die rechte Hand des Toten so legt, das man den kleinen Kopf sehen kann.

„Verdammt. Was ist denn das?“

Louis beugt sich über den Brustkob. Vorsichtig biegt er den Zeigefinger zurück. Vesucht es zumindestens.

„Brich ihm ja nicht die Finger. Dann haben wir zwie Seiten mehr zu schreiben.“

„Ich schreibe auch 2000 Seiten mehr, wenn ich dadurch hier Fehler vermeiden kann.“

„Ist ja gut“ raunt Karl, und starrt weiter auf die Hand. Louis versucht es nocheinmal. Biegt nun drei Finger gleichzeitig auf und greift nach der kleinen Puppe, die sich nun doch aus der Umklammerung lösen läßt. Die Finger gleiten wieder in ihre verkrampfte Position. Louis erhebt sich. Karl ebenfalls. Beide betrachten den kleinen Mann aus Gummi, mit einem Gummigewehr, dessen Spitze verbogen ist.

„Ich glaube, ich gehe dann doch mal in das Nebenzimmer, und unterhalte mich mit seiner Frau.“

Karl lächelt.

„Du brauchst aber auch immer eine Einladung. Auch wenn sie nur 10 Zentimeter groß ist.“

Louis schüttelt den Kopf. Wieder fliegen kleine Spritzer Regenwasser durch die Luft.

„Nein Karl, darum geht es nicht, nur jetzt habe ich einen Grund, hinter dem ich mich verstecken kann. Reiner Trauer zu begegnen ist fast nicht auszuhalten.“

Und damit tritt er hinaus in den Flur.

Die Wohnzimmertür ist angelehnt. Er schiebt sie vorsichtig auf. Er riecht Kerzenduft, Schweiß, und Gretas Parfüm. Beide Frauen sitzen auf dem Sofa, das Licht einer Stehlampe erhellt ihre Gesichter, die nun aufblicken. Greta schüttelt vorsichtig den Kopf. Die andere Frau sinkt wieder in sich zusammen. Lautlos formen Gretas Lippen Worte, und Louis versteht. Er hebt den Gummisoldaten etwas höher, doch Greta winkt nur ab, und wedelt ihn aus der Tür.

`Dann später` formen seine Lippen, und Greta nickt.

`Keine Ahnung, ob sie mich verstanden hat.`

Karl wartet an der Wohnungstür.

„Feigling“ flüstert er.

„Anweisung von Greta.“ flüstert Louis zurück. „Lass uns gehen.“

„Und die Pathologie?“

„Die erkennen eine Leiche auch ohne uns. Komm. Ausserdem ist Hänsel da. Der gute Junge von der Streife kann doch mal Aufpasser spielen.“

Im Cafe Courage bestellen wir Kaffee, Karl noch die Grillplatte.

„Für mich nichts weiter, danke.“

Die Kellnerin zuckt mit den Schultern und verschwindet.

„Du mußt essen, mein Junge.“ schmunzelt Karl, und tätschelt seinen dicken Bauch.

„Sieh mich an. Wenn ich mal entführt werde, habe ich genug Polster dabei.“

Louis lächelt zurück.

„Ich laß mich erst gar nicht entführen, und esse, wenn ich Hunger habe.“

Das alte Spiel. Karl braucht Alibis für seinen unersättlichen Apetit, und Louis Ausreden für seine Skeletthaftigkeit.

Während Karl isst, starrt Louis aus dem Fenster, sieht Beinen hinterher, Schuhwerk, das in Pfützen spritzt. Kelleraussicht.

„Dieser kleine Soldat ist fast ein bisschen unheimlich“ beginnt Louis die Rede, an niemanden bestimmtes. „Vielleicht werden wir doch wieder kleine Jungs im Angesicht des Todes…?“

Karl nuschelt, kaut, schluckt, nuschelt.

„Oder…ich ,meine, wir alle hatten doch mal Lieblingstiere, Kuscheltiere, Autos…??? Hm, der Mann war doch bestimmt über 40, oder wenigstens 35?“

Karl nickt, wischt sich mit einem Tuch über den Mund.

„Vielleicht ein Talisman? Glücksbringer? Aber für den Tod??? Vielleicht von seinen Kindern.“

Karl schüttelt jeztz heftig den Kopf. Schluckt Hustet und rülpst:

„Hatten keine Kinder.“

„Was.“ fragt Louis, der nur Rülpsen verstanden hat.

„Die hatten keine Kinder.“

„ Merkwürdig.“

„Du sagst doch selber, vielleicht aus seiner eigenen Kindheit, oder ein Talisman???“

Karl nimmt einen ordentlichen Schluck Kaffee, winkt der Kellnerin und bestellt noch zwei Kaffee, diesesmal mit Wasser, für beide.

„Nein nein. Das meine ich nicht. Merkwürdig der Brief.“

Karl hebt die Augenbrauen.

„Na, wegen der Formulierung.“

Karl sagt nichts. Nur die Augenbrauen bleiben hochgezogen.

„Da stand doch, ès ist besser so, für euch`, und ìch liebe euch`, oder???“

Karl nickt.

„Na, denk doch mal nach, Wenn er an seine Frau schreibt,warum dann euch???“

„Na, vielleicht an alle im allgemeinen, Seine Familie, seine Verwandten, und seine Frau.“

Louis sagt nichts, blickt wieder nach draussen, auf Schuhe, und Regen und November.

„Glaub ich nicht. Wenn ich einen Brief hinterlassen würde, dann nur an meine Frau. Und meiner Mutter würde ich extra schreiben…und vor allen Dingen mehr.“

„Wenn du überhaupt einen Brief schreiben würdest.“ Karl schmunzelt. „Du würdest doch bestimmt ein Video aufnehmen, und dich erstmal bei der ganzen Welt entschuldigen…“

„Ich werde nachher Greta anrufen, falls sie nicht mehr aufs Revier kommt.“

„Mach das…und Louis, wenn du schon mal da bist, sag dem Big Boss, wir brauchen für die Überwachung in Tegel noch 2 Leute.“

„Kommst du nicht mit?“

Karl schüttelt den Kopf und wischt die Soße mit einem letzten Stück Brot vom Tellerrand.

„Ich fahr gleich rüber, will noch mit ein paar Nachbarn reden…Tegel ist zwar kein Dorf, aber irgendjemand muß doch was mitbekommen haben…Man entführt doch keine Frau 2 Uhr nachmittag, und keiner hats gesehen…“ Er tippt sich an die Stirn, gibt Louis einen Klapps auf die Schulter und verschwindet Richtung Toilette.

November

1979

November. Nacht. Der kleine Junge sitzt unter dem Schreibtisch. Betrachtet den Gummisoldaten, tippt ihn an, so das er hin und her schwingt.
„Sag was.“ - flüstert der Junge, „wie fühlt sich das an?“
Nichts.
Der Soldat schwingt sich aus, dreht sich an dem Bindfaden.
„Wie fühlt sich das an?“
Nichts.
Wieder tippt der Junge das Spielzeugmännchen an. Die Spitze vom Gummigewehr ist verbogen.
Der Soldat schwingt, und schwingt, und pendelt sich aus.
„Los, sag es, du verdammter Mann, wie fühlt das sich an?“
Der Junge ist wütend, seine Frage ein Zischen. Er darf nicht so laut sein, sonst weckt er seine Mutter, die mit ihm in diesem Raum schläft.
Und wieder hängt der Soldat still. Zuckt nicht. Dreht sich nur ganz leicht, als der Junge gegen ihn pustet.
„Morgen früh schaue ich wieder nach. Und ich lasse dich hier hängen, bis du es mir sagst!!!“
Vorsichtig kriecht er unter dem Tisch hervor, schleicht zu seinem Bett und schiebt sich leise unter die Bettdecke.
`Morgen muß er es mir sagen`, `morgen ist sein Tag´! Denkt er noch und ist schon fast eingeschlafen.
Beinahe hätte er Papa gesagt, weil er so wütend war, unter dem Tisch, aber er wollte jetzt nicht weinen, nicht hier, und nicht so dicht bei seiner Mutter. Er wollte es nur wissen.

Der Autor will ...

1Alexander

Bücher verkaufen, den Alltag aufschreiben, Kaffee trinken, oft zuviel, manchmal Geschriebenes vorlesen, mal laut, mal leise, Musik auf den Tag abstimmen, oft dabei scheitern, weil die Stimmung zu oft wechselt...schlafen, wenn es geht, oder am offenen Fenster rauchen und ...mit einer wundervollen Frau an einem unendlichen Buch schreiben ...

Über den Autor ...

Geboren in Berlin, nach 10 Klassen einen Metallberuf erlernt und wieder aufgegeben, dann Wende, dann Abitur, vorher Zivildienst, dann Studium, abgebrochen, und am Ende Buchhändler...noch vor der Rente...in dieser Zeit immer öfter geschrieben, seit 2003 bei den Lautmalern, vorher NUREMBOURGH gegründet, musikalische Lesung eigener Texte, mit CD im Selbstverlag, 2008 "Blut" in Vision und Wahn Anthologie veröffentlicht, seit 2008 bei den Spree AG lern, und jetzt mal sehen ...